Russlands Invasion in die Ukraine hat eine globale Energiekrise ausgelöst

Die Welt befindet sich mitten in ihrer ersten globalen Energiekrise – ein Schock von beispielloser Breitenwirkung und Komplexität. Die Märkte standen schon vor Russlands Invasion in die Ukraine unter Druck. Das russische Vorgehen hat die rasche wirtschaftliche Erholung von der Pandemie – die weltweite Lieferketten, u. a. im Energiesektor, massiv beeinträchtigte – jedoch in heftige Turbulenzen an den Energiemärkten verwandelt.
Russ­land war bisher mit Abstand der weltweit größte Exporteur fossiler Energieträger. Durch die aktuelle Drosselung der Gaslieferungen nach Europa und Einfuhrverbote für Öl und Kohle ist jedoch einer der wichtigsten globalen Energiehandelsströme unterbrochen. Das betrifft alle Energieträger, ganz besonders jedoch die Erdgasmärkte, auf denen Russland die Verbraucher mit höheren Energiekosten und Versorgungsengpässen konfrontiert, um sich ein Druckmittel zu verschaffen.

Die Spotmarktpreise für Erdgas haben Rekordhöhen erreicht und steigen regelmäßig auf mehr als 250 USD pro Barrel gleichwertiger Öleinheiten. Auch Kohle ist so teuer wie noch nie und das Barrel Öl kostete Mitte 2022 vorübergehend deutlich mehr als 100 USD. Hohe Erdgas- und Kohle­preise sind für 90 % des Aufwärtsdrucks auf die Stromkosten in aller Welt verantwortlich. Als Ausgleich für die ausgefallenen russischen Erdgaslieferungen dürfte Europa 2022 seine Importe von Flüssigerdgas (LNG) im Vorjahresvergleich um 50 Mrd. m3 steigern. Dabei profi­tiert der Wirtschaftsraum von dem durch Lockdowns und ein niedrigeres Wirtschafts­wachstum gedämpften Erdgasverbrauch Chinas. Allerdings beeinträchtigt die gestiegene europäische Nachfrage nach Flüssigerdgas das Angebot für andere asiatische Importländer.

Die Krise hat Inflationsdruck erzeugt und das Rezessionsrisiko erhöht, während die Pro­duzenten fossiler Brennstoffe gegenüber dem Vorjahresergebnis Sondergewinne in Höhe von 2 Bill. USD erzielten. Die höheren Energiepreise verschlechtern in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern auch die Ernährungslage. Dies bekommen vor allem ärmere Haushalte zu spüren, die einen größeren Teil ihrer Einkommen für Energie und Lebensmittel ausgeben. Rund 75 Millionen Menschen, die erst kürzlich Zugang zu Elektrizität erhalten haben, können ihre Stromrechnungen wahrscheinlich nicht mehr bezahlen. Erstmals seit Beginn unserer Aufzeichnungen stellen wir fest, dass weltweit die Gesamtzahl der Menschen ohne Strom­anschluss ansteigt. Außerdem werden möglicherweise fast 100 Millionen Menschen wieder über einem Holzfeuer kochen, anstatt weiterhin sauberere und gesündere Energiequellen nutzen zu können.

Insbesondere in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften haben sich die Regierungen bemüht, die Verbraucher mit bis dato insgesamt deutlich über 500 Mrd. USD gegen die unmittelbaren Folgen der Energieknappheit und hohen Preise abzuschirmen. Sie ver­suchen, sich möglichst schnell alternative Brennstoffe zu sichern und ausreichend Erdgas zu speichern. Als weitere kurzfristige Lösungen wurden u. a. die Öl- und Kohleverstromung ausgeweitet, die Laufzeiten einiger Kernkraftwerke verlängert und neue Projekte für erneuerbare Energien vorangetrieben. Anpassungen auf der Nachfrageseite standen bisher weniger im Vordergrund, doch auch Verbesserungen der Energieeffizienz gehören kurz- wie langfristig zu den essenziellen Maßnahmen.

Wird die Energiewende durch die Krise begünstigt oder gebremst?

Die Energiemärkte bleiben überaus störanfällig und der Energieschock führt uns die Fragilität und fehlende Nachhaltigkeit unseres Energiesystems klar vor Augen. Ob die Umstellung auf saubere Energien durch die Krise einen Rückschlag erleidet oder beschleunigt wird, ist eine zentrale Frage, für Politikverantwortliche ebenso wie für diesen Ausblick. In manchen Kreisen werden die Klimapolitik und Netto-Null-Emissionsziele für den Anstieg der Energiepreise mitverantwortlich gemacht, doch Belege gibt es dafür kaum. In den am stärksten betroffenen Regionen korreliert ein höherer Beitrag der Erneuerbaren zur Stromerzeugung mit niedrigeren Preisen; einigen – allerdings deutlich zu wenigen – Verbrauchern bringen energieeffiziente Wohnungen und Wärme aus Strom wichtige Entlastungen.

In Krisenzeiten rücken die Regierungen und ihre Gegenmaßnahmen ins Zentrum der Auf­merksamkeit. Viele ergreifen nicht nur kurzfristige Maßnahmen: Manche bemühen sich, ihre Versorgung mit Öl und Erdgas längerfristig zu verbessern oder zu diversifizieren, und häufig wird versucht, strukturelle Veränderungen zu beschleunigen. Die drei Szenarien dieses World Energy Outlook (WEO – „Weltenergieausblick“) unterscheiden sich in erster Linie hinsichtlich ihrer Annahmen in Bezug auf die politische Maßnahmen der Regierungen. Das Stated Policies Scenario (STEPS) zeichnet einen Entwicklungspfad auf der Grundlage des aktuellen politischen Handlungsrahmens. Das Announced Pledges Scenario (APS) basiert auf der Annahme, dass alle ambitionierten Zielsetzungen der Regierungen – auch ihre langfristigen Klimaneutralitäts- und Energie­sicherheitsziele – komplett und zeitgerecht umgesetzt werden. Das Net Zero Emissions by 2050 (NZE) Scenario skizziert einen Weg, um den mittleren globalen Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen und gleichzeitig den Zugang zu modernen Energiequellen bis zum Jahr 2030 weltweit allgemein verfügbar zu machen.

Die Reaktionen der Politik beschleunigen die Entstehung einer klimafreundlichen Wirtschaft

Im STEPS helfen neue politische Maßnahmen auf großen Energiemärkten, die jährlichen Investitionen in saubere Energien bis 2030 um mehr als 50 % auf über 2 Bill. USD an­zuheben. Der Bereich saubere Energie birgt immense Chancen für mehr Wachstum und Arbeitsplätze und wird zu einem wichtigen Feld des internationalen wirtschaftlichen Wett­bewerbs. In den Vereinigten Staaten trägt der Inflation Reduction Act wesentlich dazu bei, dass 2030 der jährliche Zubau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen das heutige Niveau um das 2,5-Fache übertrifft und siebenmal so viele Elektroautos verkauft werden. In China wird die massive Förderung sauberer Energiequellen weiter vorangetrieben, sodass sowohl der Kohle- als auch der Ölverbrauch des Landes noch vor Ende des laufenden Jahrzehnts seinen Scheitelpunkt erreicht. In der Europäischen Union geht die Erdgas- und Ölnachfrage angesichts des beschleunigten Ausbaus der Erneuerbaren und großer Effizienzsteigerungen noch in diesem Jahrzehnt um 20 % und der Kohlebedarf sogar um 50 % zurück. Dass russisches Erdgas durch andere Energiequellen für Industrie und Wirtschaft ersetzt werden muss, erhöht die Dringlichkeit dieser Bemühungen zusätzlich. Japan möchte im Rahmen seiner Strategie für grüne Transformation (GX) bestimmte Technologien, u. a. die Kernkraft sowie den Einsatz von emissionsarmem Wasserstoff und Ammoniak, deutlich stärker fördern. Auch in Korea sollen die Anteile der Kernenergie und der Erneuerbaren am Energiemix steigen. Indien macht weitere Fortschritte bei der Umsetzung seines Ziels, 2030 mit eigenen Anlagen 500 GW aus erneuerbaren Energiequellen zu erzeugen. Die erneuerbaren Energien decken fast zwei Drittel seines schnell ansteigenden Strombedarfs ab.

Clean energy investment in the Stated Policies Scenario, 2015-2030

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Wenn die Märkte wieder ins Gleichgewicht kommen, verzeichnen die Erneuerbaren und die Kernkraft langfristige Zuwächse; die krisenbedingte Renaissance der Kohle ist nicht von Dauer. Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien steigt schneller als die Strom­erzeugung insgesamt; dementsprechend geht der Beitrag der fossilen Energieträger zurück. Die Krise treibt die Auslastung bestehender Kohlekraftwerke nur kurzzeitig nach oben und löst keine größeren Investitionen in neue Anlagen aus. Entschlossene politische Maßnahmen, eingetrübte Konjunkturaussichten und das auf kurze Sicht hohe Preisniveau bremsen den Anstieg der Gesamtenergienachfrage. Deutlichere Zuwächse werden vor allem Indien, Südostasien, Afrika und der Mittlere Osten verzeichnen. Der Energieverbrauch Chinas, dessen Wachstum in den letzten beiden Jahrzehnten die globalen Energietrends ganz wesentlich beeinflusste, stagniert angesichts der zunehmenden Dienstleistungsorientierung der chinesischen Wirtschaft zusehends und erreicht noch vor 2030 ein Plateau. 

Power sector CO2 emissions, 1990-2050

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Change in electricity generation in the Stated Policies Scenario between 2021 and 2030

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Der internationale Energiehandel erfährt in den 2020er Jahren eine tiefgreifende Neu­orientierung, weil sich die Länder auf eine permanente Störung der Versorgung Europas mit russischer Energie einstellen. Die bisher für Europa vorgesehenen russischen Lieferun­gen finden nur z. T. Abnehmer auf anderen Märkten, sodass die russische Energieproduktion zurückgeht, und mit ihr das globale Energieaufkommen. Auf den Märkten für Rohöl und Mineralölerzeugnisse, insbesondere für Diesel, ist angesichts des EU-Ölembargos gegen Russland mit Turbulenzen zu rechnen. Bei Erdgas wird die Anpassung länger dauern. Den Gasmärkten steht im kommenden Winter auf der Nordhalbkugel eine risikoreiche Zeit bevor, die die Solidarität unter den EU-Ländern auf eine harte Probe stellt – und der Winter 2023–‍2024 könnte noch schwieriger werden. Eine deutliche Steigerung der Flüssig­erdgaslieferungen – hauptsächlich aus Nordamerika, Katar und Afrika – tritt erst ungefähr zur Mitte des Jahrzehnts ein. Die verfügbaren Tankerladungen sind überaus begehrt, da in China die Importnachfrage wieder ansteigt.

Dank konsequenterer politischer Weichenstellungen naht der Scheitelpunkt der fossilen Energieerzeugung

Erstmals zeigt ein WEO-Szenario auf der Grundlage der herrschenden politischen Rahmenbedingungen, dass die weltweite Nachfrage nach den verschiedenen fossilen Energieträgern auf einen Höhepunkt zusteuert oder ein Plateau erreicht. Im STEPS wird die Kohleverstromung in den nächsten Jahren wieder reduziert und der Erdgasverbrauch ist spätestens zum Ende des Jahrzehnts stabil. Das Absatzwachstum bei Elektroautos führt Mitte der 2030er Jahre zu einer schwächeren Ölnachfrage, gefolgt von einer leicht fallenden Tendenz bis Mitte des Jahrhunderts. Insgesamt geht die Nachfrage nach fossilen Energie­trägern ab Mitte der 2020er Jahre kontinuierlich zurück, und zwar bis 2050 um durch­schnittlich ungefähr 2 Exajoule pro Jahr. Dies entspricht in etwa der Energiemenge, die ein großes Ölfeld während seiner gesamten Lebensdauer abwirft.

Seit Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert ist mit der globalen Wirt­schaftsleistung auch stets die Nutzung fossiler Energieträger angestiegen. Die Umkehr dieses Trends bei fortgesetzter Expansion der Weltwirtschaft wird einen entscheidenden Wendepunkt der Energiegeschichte darstellen. Seit Jahrzehnten hält sich der Anteil der fossilen Energieträger am globalen Energiemix hartnäckig bei rd. 80 %. Bis 2030 allerdings sinkt er laut dem STEPS unter die Marke von 75 % und zwanzig Jahre später liegt er nur noch knapp über 60 %. Die weltweiten energiebedingten CO2-Emissionen erreichen demnach 2025 bei 37 Gigatonnen (Gt) pro Jahr ihren Höhepunkt und gehen dann bis 2050 auf 32 Gt zurück. Dies würde mit einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperaturen um rd. 2,5 °C bis 2100 einhergehen. Das ist eine bessere Prognose als noch vor ein paar Jahren: Neue politische Initiativen und seit 2015 erreichte technologische Fortschritte haben die lang­fristige Erderwärmung um rund 1 °C gesenkt. Doch die jährlichen CO2-Emissionen fallen damit laut STEPS bis 2050 nur um 13 %; das reicht bei Weitem nicht aus, um schwerwiegende Folgen des Klimawandels zu verhindern.

Fossil fuel demand in the Stated Policies Scenario, 1900-2050

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Eine vollständige Umsetzung aller Klimaverpflichtungen wäre ein Beitrag zu einer zukunfts­sicheren Welt, allerdings klafft weiterhin eine große Lücke zwischen den heutigen Bestrebungen und dem 1,5-Grad-Ziel. Im APS erreichen die jährlichen Emissionen schon bald ihren Scheitelpunkt, sinken dann schneller und liegen 2050 nur noch bei 12 Gt. Der Rückgang fällt deutlicher aus als noch im APS des WEO 2021, weil weitere Verpflichtungen im letzten Jahr angekündigt wurden, insbesondere von Indien und Indonesien. Wenn diese neuen nationalen Zusagen – ebenso wie die (im diesjährigen APS erstmals berücksichtigten) Selbstver­pflichtungen bestimmter Sektoren und Zielvorgaben von Unternehmen – zeitgerecht und vollständig realisiert werden, kann der Temperaturanstieg bis 2100 gemäß dem APS auf rund 1,7 °C begrenzt werden. Allerdings ist es einfacher, Verpflichtungen anzukündigen, als ihnen nachzukommen, und selbst wenn sie erfüllt werden, bleibt das Ergebnis noch weit hinter dem NZE-Szenario zurück, in dem das 1,5-Grad-Ziel durch die Senkung der Emissionen bis 2030 auf 23 Gt und bis 2050 auf netto null erreicht wird.

Global energy related CO2 emissions by scenario, 1990-2050

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Einige Sektoren sind dank sauberem Strom bereit für eine schnellere Trans-formation

In diesem Jahrzehnt muss die Welt die Weichen stellen, damit das Energiesystem sicherer, nachhaltiger und bezahlbarer wird – und wenn sofort und entschieden gehandelt wird, sind deutlich schnellere Fortschritte möglich. Investitionen in sauberen Strom und Elektrifizierung sowie der Ausbau und die Modernisierung der Stromnetze bieten klare und kostengünstige Möglichkeiten, Emissionen schneller zu reduzieren und die hohen Strom­kosten wieder zu senken. Wenn der Einsatz von Photovoltaik- und Windkraftanlagen, Elektroautos und Batterien weiter zunimmt wie bisher, geht die Transformation deutlich schneller vonstatten als im STEPS prognostiziert. Voraussetzung dafür sind allerdings unter­stützende politische Maßnahmen, und zwar nicht nur auf den führenden Märkten für diese Technologien, sondern weltweit. Wenn die Länder ihre Klimaverpflichtungen einhalten, ist 2030 jeder zweite Neuwagen, der in der Europäischen Union, in China und den Vereinigten Staaten verkauft wird, ein Elektroauto.

Das Entwicklungstempo der Lieferketten für einige Schlüsseltechnologien – z. B. für Batterien, Solarmodule und Elektrolyseure – birgt neue Chancen auf den Weltmärkten. Wenn die Fertigungskapazitäten für Solarmodule wie angekündigt ausgebaut werden, übersteigen sie 2030 das für den Zubau gemäß APS benötigte Niveau um 75 % und nähern sich den Bedingungen des NZE-Szenarios an. Was den Einsatz von Elektrolyseuren für die Wasserstoffgewinnung betrifft, führt die Umsetzung aller bis 2030 angekündigten Projekte im APS zu einem potenziellen Kapazitätsüberschuss von rd. 50 %. Der Ausbau der Batterie­produktion für Elektroautos spiegelt den derzeitigen Wandel der Automobilindustrie wider, die zeitweise Zielvorgaben für Elektromobilität früher aufgestellt hat als die Regierungen. Gemeinsam leisten diese verschiedenen Lieferketten für saubere Energie einen enormen Beschäftigungsbeitrag: Derzeit arbeiten weltweit rd. 33 Millionen Menschen in diesem Bereich und damit schon jetzt mehr als in der fossilen Energiebranche. Laut APS steigt diese Zahl bis 2030 auf fast 55 Millionen.

Announced manufacturing capacity compared with Net Zero Scenario deployment, 2030

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Effizienz und saubere Brennstoffe werden wichtigere Wettbewerbsvorteile

Die derzeit hohen Energiepreise zeigen die Vorteile einer größeren Energieeffizienz und führen in einigen Ländern zu Verhaltens- und Technologieänderungen, um den Energie­verbrauch zu senken. Effizienzmaßnahmen können dramatische Effekte haben – vor zwanzig Jahren benötigten Glühbirnen noch mindestens viermal so viel Strom wie die heutigen Energiesparlampen – es muss jedoch noch viel mehr getan werden. Die Nachfrage nach Kühlung sollte ein besonderer Schwerpunkt der Politikverantwortlichen sein, da sie in den kommenden Jahrzehnten den zweitgrößten Beitrag zum Gesamtanstieg der globalen Stromnachfrage leisten wird (nach Elektroautos). Viele der heute genutzten Klimaanlagen unterliegen nur geringen Effizienzstandards und in den aufstrebenden Volkswirtschaften und Entwicklungsländern wird ein Fünftel der Stromnachfrage für Kühlung von gar keinen Standards erfasst. Im STEPS steigt der Kühlbedarf in diesen Ländern bis 2050 um 2 800 Tera­wattstunden. Das entspricht einer Zunahme um den heutigen Verbrauch der Europäischen Union. Im APS fällt dieses Wachstum aufgrund strengerer Effizienzstandards und einer besseren Bauplanung und Wärmedämmung um die Hälfte niedriger aus – und im NZE-Szenario wird es noch einmal halbiert.

Die Besorgnis über Brennstoffpreise, Energiesicherheit und Emissionen – und eine stärkere politische Unterstützung – verbessern die Aussichten für viele emissionsarme Energie­quellen. Die Investitionen in emissionsarme Gase dürften in den kommenden Jahren stark zunehmen. Im APS steigt die globale Produktion von emissionsarmem Wasserstoff bis 2030 vom heute noch sehr niedrigen Niveau auf über 30 Mio. Tonnen (Mt) pro Jahr; dies entspricht mehr als 100 Mrd. m3 Erdgas (wobei allerdings nicht der gesamte emissionsarme Wasser­stoff als direkter Ersatz für Erdgas eingesetzt würde). Ein großer Teil dieses Wasserstoffs wird in der Nähe des Verbrauchsorts produziert, der internationale Handel mit Wasserstoff und wasser­stoffbasierten Brennstoffen entwickelt sich jedoch dynamisch. Projekte mit einer poten­ziellen Exportkapazität von 12 Mt sind in Planung, wenngleich sie zahlreicher und weiter fortgeschritten sind als die entsprechenden Vorhaben, die die Importinfrastruktur und die Nachfrage stützen sollen. Die Projekte im Bereich der CO2-Abscheidung, -Nutzung und -‍Speicherung schreiten ebenfalls schneller voran als früher, weil sie verstärkt gefördert werden, um die Dekarbonisierung der Industrie zu unterstützen, emissionsarme oder -‍ärmere Brennstoffe zu produzieren und CO2 mit dem Direct-Air-Capture-Verfahren direkt aus der Umgebungsluft ziehen zu können.

Das Tempo der Transformation hängt letztlich jedoch von den Investitionen ab

Um das Risiko künftiger Preissteigerungen und Preisvolatilität zu reduzieren und bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, ist ein starker Anstieg der Energieinvestitionen erforderlich. Die Investitionen in saubere Energie steigen im STEPS von heute 1,3 Bill. USD auf über 2 Bill. USD im Jahr 2030, müssten im NZE-Szenario zu diesem Zeitpunkt jedoch mehr als 4 Bill. USD betragen. Dies zeigt, wie wichtig es ist, neue Investoren im Energiesektor anzuziehen. Die Regierungen sollten eine Führungsrolle einnehmen und die strategische Richtung vorgeben. Die erforderlichen Investitionen gehen jedoch weit über die Möglich­keiten der öffentlichen Finanzen hinaus. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, auch die enormen Ressourcen der Märkte zu nutzen und privaten Akteuren Anreize zu bieten, ebenfalls einen Beitrag zu leisten. Für jeden weltweit für fossile Brennstoffe ausgegebenen US-Dollar werden heute 1,5 USD für saubere Energietechnologien aufgewendet. 2030 werden im NZE-Szenario für jeden US-Dollar, der weltweit für fossile Energieträger ausgegeben wird, 5 USD für saubere Energieversorgung und weitere 4 USD für Effizienz und Maßnahmen im Endverbrauch aufgewendet. 

Cost of capital for a solar PV project, 2021

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Energy sector investment in the Net Zero Scenario, 2021-2030

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Die Defizite bei den Investitionen in saubere Energie sind in den aufstrebenden Volks­wirtschaften und Entwicklungsländern am größten, ein besorgniserregendes Signal angesichts des projizierten raschen Anstiegs ihrer Nachfrage nach Energiedienstleistungen. Mit Ausnahme von China ist der jedes Jahr in saubere Energie investierte Betrag in den aufstrebenden Volkswirtschaften und Entwicklungsländern seit dem Abschluss des Pariser Abkommens 2015 konstant geblieben. Die Kapitalkosten einer Photovoltaikanlage waren 2021 in den wichtigsten aufstrebenden Volkswirtschaften zwei- bis dreimal so hoch wie in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften und China. Der derzeitige Anstieg der Kreditkosten könnte die mit solchen Projekten verbundenen Finanzierungsherausforderungen trotz der günstigen Kostenstruktur der Projekte noch verschärfen. Um die Klimafinanzierung zu erhöhen und die verschiedenen gesamtwirtschaftlichen oder projektspezifischen Risiken, die Investoren abschrecken, anzugehen, sind verstärkte internationale Anstrengungen erforder­lich. Breit angelegte nationale Transformationsstrategien haben einen enormen Wert. Das gilt beispielsweise für die Just Energy Transition Partnerships mit Indonesien, Südafrika und anderen Ländern, die internationale Unterstützung und ambitionierte nationale politische Maßnahmen verbinden und dabei die Energiesicherheit und die sozialen Auswirkungen des Wandels berücksichtigen.

Das Tempo, in dem Investoren auf umfassende und glaubwürdige Transformations­konzepte reagieren, hängt in der Praxis von zahlreichen Detailfragen ab. Lieferketten sind störanfällig, und Infrastruktur und Fachkräfte sind nicht immer verfügbar. Genehmigungs­vorschriften und -fristen sind häufig komplex und ihre Einhaltung kostet Zeit. Klare Verfahren für die Projektgenehmigung mit ausreichenden Verwaltungskapazitäten sind von ent­scheidender Bedeutung, um die Durchführung tragfähiger investierbarer Projekte – sowohl für saubere Energie als auch für Effizienzsteigerung und Elektrifizierung – zu beschleunigen. Unsere Analyse hat ergeben, dass die Genehmigung und der Bau einer einzigen elektrischen Freileitung im Übertragungsnetz 13 Jahre dauern kann, wobei einige der längsten Vorlaufzeiten in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften verzeichnet werden. Die Erschließung neuer Lager­stätten von kritischen Mineralien nimmt durchschnittlich mehr als 16 Jahre in Anspruch, wobei die Genehmigungs- und Finanzierungsaspekte 12 Jahre dauern und der Bau 4–5 Jahre.

Was passiert, wenn die Transformation nicht beschleunigt wird?

Wenn die Investitionen in saubere Energien nicht beschleunigt werden, wie dies im NZE-Szenario vorgesehen ist, sind höhere Investitionen in Öl und Gas notwendig, um erneute Preisschwankungen zu vermeiden. Dies würde allerdings das 1,5-Grad-Ziel gefährden. Im STEPS werden bis 2030 im Durchschnitt jährlich fast 650 Mrd. USD für Upstream-Investitionen in Öl und Erdgas ausgegeben, ein Anstieg um mehr als 50 % gegenüber den letzten Jahren. Diese Investitionen sind mit wirtschaftlichen und ökologischen Risiken verbunden und können nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Trotz der in diesem Jahr verzeichneten hohen Sondergewinne investieren heute nur einige Produzenten im Mittleren Osten mehr in den Upstream-Bereich als vor der Coronapandemie. Angesichts der Sorgen über steigende Kosten legt die Schieferöl- und Schiefergasindustrie in den Vereinigten Staaten heute mehr Wert auf Kapitaldisziplin als auf Produktionswachstum. Das bedeutet, dass die Hauptquelle des jüngsten Wachstums der Öl- und Gasförderung an Dynamik verliert.

Der Ausfall der fossilen Brennstoffe aus Russland muss kurzfristig durch Produktion anderswo ersetzt werden – selbst in einer Welt, die bis 2050 Klimaneutralität erreichen will. Die beste kurzfristige Lösung besteht darin, Projekte mit kurzen Vorlaufzeiten ein­zuleiten, die Öl und Gas rasch auf den Markt bringen, sowie einen Teil der 260 Mrd. m3 Gas abzufangen, die jedes Jahr durch Abfackeln und Methanlecks verschwendet und an die Atmosphäre abgegeben werden. Doch um die heutige Krise dauerhaft zu überwinden, muss die Nachfrage nach fossilen Energieträgern sinken. Viele Finanzorganisationen haben sich Ziele gesetzt und Pläne ausgearbeitet, um ihre Investitionen in diese Brennstoffe zu reduzieren. Deutlich zu wenig Bedeutung wird aber Zielen und Plänen zur Steigerung der Investitionen in saubere Energien beigemessen, ebenso wie der Frage, welche Anreize der Staat diesbezüglich setzen kann. 

Russland gehört bei der Neuausrichtung des internationalen Handels zu den Verlierern

Russlands Invasion in die Ukraine führt zu einer weitreichenden Neuorientierung des globalen Energiehandels, die die Position Russlands deutlich schwächt. Alle auf fossilen Brennstoffen basierenden Handelsverbindungen Russlands mit Europa wurden letztendlich in unseren früheren Szenarien durch das europäische Netto-Null-Emissionsziel beeinträchtigt. Infolge seiner relativ niedrigen Lieferkosten verlor Russland jedoch nur allmählich an Boden. Jetzt ist der Bruch in einer Geschwindigkeit eingetreten, die nur wenige für möglich gehalten haben. Dieser Ausblick geht davon aus, dass mehr russische Ressourcen nach Osten zu asiatischen Märkten geleitet werden, dass Russland jedoch nicht dazu in der Lage ist, Märkte für alle Handelsströme zu finden, die früher nach Europa gingen. Die Prognose für Russlands Ölförderung im Jahr 2025 fällt nun um 2 Mio. Barrel pro Tag niedriger aus als im WEO 2021 und die Gasförderung geht um 200 Mrd. m3 zurück. Die längerfristigen Aussichten werden nicht nur durch die unsichere Nachfrageentwicklung eingetrübt, sondern auch durch den begrenzten Zugang zu internationalem Kapital und Technologien, die für schwerer zu­gängliche Felder und anspruchsvolle LNG-Projekte erforderlich sind. Die russischen Exporte von fossilen Brennstoffen erreichen in keinem unserer Szenarien wieder das Niveau von 2021 und der Anteil des Landes am internationalen Handel mit Öl und Gas geht im STEPS bis 2030 um die Hälfte zurück.

Russian oil exports in the World Energy Outlook 2022 vs. 2021

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Russian gas exports in the World Energy Outlook 2022 vs. 2021

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Russlands Neuorientierung auf asiatische Märkte ist im Fall von Erdgas besonders heraus­fordernd, weil die Marktchancen für umfangreiche zusätzliche Lieferungen an China begrenzt sind. Russland plant neue Pipelineverbindungen nach China, insbesondere die mit einer hohen Transportkapazität ausgestattete Pipeline „Kraft Sibiriens 2“ durch die Mongolei. Unsere Nachfrageprojektionen für China lassen jedoch erhebliche Zweifel an der Tragfähigkeit einer weiteren groß angelegten Erdgasverbindung mit Russland aufkommen, sobald die bereits bestehende Kraft Sibiriens-Pipeline ihre volle Kapazität erreicht hat. Im STEPS verlangsamt sich das Wachstum der chinesischen Gasnachfrage zwischen 2021 und 2030 auf 2 % pro Jahr, im Vergleich zu einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 12 % seit 2010. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Politik bei der Strom- und Wärmeerzeugung zunehmend auf erneuerbare Energien und Elektrifizierung anstelle von Gas setzt. Die chinesischen Importeure haben sich bereits erfolgreich um neue langfristige Verträge über LNG-Lieferungen bemüht und die vereinbarten Liefermengen reichen im STEPS aus, um die projizierte Nachfrage Chinas bis in die 2030er Jahre zu decken. 

Waren die 2010er Jahre das „goldene Zeitalter für Gas“?

Einer der Effekte von Russlands Vorgehen besteht darin, dass die Phase des raschen Wachstums der Erdgasnachfrage zu Ende geht. Selbst im STEPS, dem Szenario, das den höchsten Gasverbrauch projiziert, steigt die globale Nachfrage zwischen 2021 und 2030 um weniger als 5 % und stagniert anschließend bis 2050 unverändert bei rd. 4 400 Mrd. m3. Folgende Faktoren dämpfen den Ausblick: kurzfristig höhere Preise, eine schnellere Einführung von Wärmepumpen und sonstigen Effizienzmaßnahmen, ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien und sonstiger flexibler Lösungen im Stromsektor sowie in einigen Fällen ein etwas längerer Einsatz von Kohle. Im STEPS wird die für 2030 projizierte Erdgasnachfrage in den Vereinigten Staaten durch den Inflation Reduction Act im Vergleich zu den letztjährigen Projektionen um mehr als 40 Mrd. m3 gesenkt, wodurch Kapazitäten für den Export frei werden. Eine strengere Klimapolitik beschleunigt Europas Strukturwandel weg vom Gas. Die Preise werden Mitte der 2020er Jahre durch neue Versorgungsquellen gesenkt und LNG wird für die Gasversorgungssicherheit noch wichtiger. Die Wachstums­dynamik des Erdgasverbrauchs hat sich in den Entwicklungsländern jedoch verlangsamt, insbesondere in Süd- und Südostasien, was die Bedeutung von Gas als Übergangsbrennstoff verringert. Die im STEPS dieses Jahres vorgenommene Abwärtskorrektur der Gasnachfrage bis 2030 ist zum größten Teil auf einen schnelleren Übergang zu sauberer Energie zurück­zuführen; wobei etwa ein Viertel daraus resultiert, dass Gas durch Kohle und Öl ersetzt wird. 

Change in global gas trade, 2021-2030

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Global natural gas demand, 2010-2050

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Bezahlbare und sichere Transformationen auf Basis resilienter Lieferketten

Um die Zuverlässigkeit und Bezahlbarkeit zu bewahren und zugleich die Emissionen zu reduzieren, ist ein neues Energiesicherheitskonzept erforderlich. Der Ausblick enthält zehn Grundsätze als Leitfaden für Politikverantwortliche in der Periode, in der die Bedeutung des fossilen Brennstoffsystems sinkt und gleichzeitig das nachhaltige Energiesystem expandiert. Obwohl sich der jeweilige Beitrag der beiden Systeme im Verlauf der Energiewende ändert, müssen sie gut nebeneinander funktionieren, um die von den Verbrauchern be­nötigten Energiedienstleistungen zu erbringen. Die Energiesicherheit in den Stromsystemen der Zukunft erfordert neue Instrumente und flexiblere Ansätze und Mechanismen, um aus­reichende Kapazitäten zu gewährleisten. Die Stromerzeuger müssen schneller reagieren, die Verbraucher müssen stärker vernetzt und anpassungsfähiger sein und die Netzinfrastruktur muss ausgebaut und digitalisiert werden. Inklusive, am Menschen orientierte Ansätze sind entscheidend, damit vulnerable Bevölkerungsgruppen die mit sauberen Technologien ver­bundenen Vorlaufkosten bewältigen können und die Vorteile der Transformation breiten Teilen der Gesellschaft zugutekommen. Selbst wenn die Transformation den Verbrauch fossiler Energieträger reduziert, bleiben Teile des fossilen Brennstoffsystems für die Energie­sicherheit wichtig, wie beispielsweise Gaskraftwerke für Spitzenlaststrom oder Raffinerien für die verbliebenen Nutzer von Verkehrskraftstoffen. Ein ungeplanter oder vor­zeitiger Abbau dieser Infrastruktur könnte negative Folgen für die Energiesicherheit haben.

Bei der Überwindung der heutigen Energiekrise müssen neue Schwachpunkte vermieden werden, die sich aus hohen und volatilen Rohstoffpreisen oder stark konzentrierten Lieferketten für saubere Energie ergeben. Wenn diese Fragen nicht angemessen ange­gangen werden, könnten sie die Energiewende verzögern oder verteuern. Die Nach­frage nach kritischen Mineralien für saubere Energietechnologien dürfte stark steigen; dem APS zufolge wird sie sich bis 2030 mehr als verdoppeln. Kupfer weist in absoluten Zahlen den größten Anstieg auf, andere Rohstoffe verzeichnen jedoch viel größere Wachstumsraten, insbesondere Silizium und Silber für Photovoltaik, seltene Erden für Windgeneratoren und Lithium für Batterien. Kontinuierliche technische Innovation und Recycling sind von ent­scheidender Bedeutung, um die Märkte für kritische Mineralien zu entlasten. Die starke Abhängigkeit von einzelnen Ländern wie China bei der Lieferung dieser Rohstoffe und bei vielen Lieferketten für saubere Technologien stellt ein Risiko für die Transformation dar. Das Gleiche gilt jedoch auch für bestimmte Diversifizierungsoptionen, die die Vorteile des Handels be­seitigen. 

Share of top 3 countries in the production of selected mineral resources, 2021

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Die Energiekrise verspricht, sich als ein historischer Wendepunkt hin zu einem saubereren und sichereren Energiesystem zu erweisen

Die Energiemärkte und energiepolitischen Maßnahmen haben sich als Reaktion auf Russlands Invasion in die Ukraine verändert, und zwar nicht nur kurzfristig, sondern für Jahrzehnte. Die ökologischen Gründe für saubere Energie brauchten nicht bekräftigt zu werden, doch die wirtschaftlichen Argumente für bezahlbare saubere Technologien mit wettbewerbsfähigen Kosten haben jetzt mehr Gewicht – ebenso wie der Aspekt der Energiesicherheit. Die gemeinsame Ausrichtung von wirtschaftlichen, klima- und sicherheitspolitischen Prioritäten bewegt sich aktuell in eine positive Richtung für die Weltbevölkerung und den Planeten. Es muss jedoch noch viel mehr getan werden und es ist von entscheidender Bedeutung, alle in diese dynamische Ent­wicklung einzubeziehen, insbesondere in einer Zeit, in der geopolitische Spannungen im Energie- und Klimabereich immer deutlicher zutage treten. Wir müssen unsere Anstrengun­gen verstärken, um sicherzustellen, dass eine breite Koalition von Ländern ein Interesse an der neuen Energiewirtschaft hat. Es ist möglich, dass der Übergang zu einem sichereren und nachhaltigeren Energiesystem nicht reibungslos verläuft. Die heutige Krise macht jedoch eindeutig klar, weshalb wir die Entwicklung vorantreiben müssen.